
Diese Frage wurde mir vor einiger Zeit gestellt und ich habe reflexartig geantwortet: Na klar! Wie soll man sie denn ohne Schrift lesen können?
Ich bin, mal wieder, einem Stereotyp auf dem Lein gegangen und hätte ich mit der Antwort nur zwei oder drei Sekunden gewartet, wäre sie anders ausgefallen. Denn jede Sprache ist in erster Linie ein mündliches Kommunikationsmittel. Die Schrift, falls es eine gibt, ist eine Möglichkeit auch in geschriebener Sprache zu kommunizieren, d.h. Schrift ergänzt die Sprache.
Gesprochene Sprache ist viel älter als geschriebene Sprache und weltweit gibt es circa 3000, meist eher kleinere Sprachen ohne Schrift. Beispiele sind indigene Sprachen Nordamerikas oder Australiens. Sprachen sind komplex, egal ob mit oder ohne Schrift. Die Vorstellung, dass eine Schrift eine Sprache „besser“ mache, ist ein Argument, um die Sprachen abzuwerten und zu unterdrücken.
Kulturen mit schriftlosen Sprachen haben bestimmte Systeme zur Weitergabe von Wissen, Geschichten oder Heilmittel u.v.m. Oft werden sie von den Großeltern oder Dorfältesten an die jüngere Generation weitergegeben, was seit Jahrhunderten funktioniert solange die Gesellschaft in demselben Verbund zusammenlebt. Genau diese Gesellschaftsformen wie mehrere Generationen unter einem Dach o.ä. finden sich aber immer weniger. Das Wissen geht dann verloren, falls es nicht durch Aufzeichnungen in Schrift- oder Audioform gerettet werden konnte.
Viele Sprachen haben im Laufe ihrer Entwicklung entweder eine Schrift entwickelt oder eine Schriftsystem einer anderen Sprachen angenommen und nach ihren Bedürfnissen verändert. Diese Veränderungen sehen wir in Europa sehr häufig. Das lateinische Alphabet ist z.B. in slawischen Sprachen um diakritische Zeichen wie Hatscheks oder Ogoneks erweitert worden, um die spezifischen Laute der Sprachen zu verschriftlichen.
Eine Schrift erfüllt verschiedene Zwecke: Es ist ein Wissensspeicher und kann dadurch das jeweilige Wissen verbreiten. Außerdem ist es ein nützliches Instrument für die Verwaltung der immer komplexeren Gesellschaftsformen der Menschen. Die Verbreitung von literarischen, philosophischen oder medizinischen Wissen ist durch die Verschriftlichungen über große Strecken möglich und kann am Zielort vervielfältigt werden, ohne dass die ursprünglichen Autor*innen vor Ort sein müssen.
Rein technisch gesehen, lässt sich jede Sprache der Welt verschriftlichen. Die Frage ist nur wie. Entdecker*innen, Forscher*innen und andere haben schon immer versucht ihnen unbekannte Sprachen auszuschreiben. Ob sie sie nun einfach verstehen oder retten wollten, wie z.B. indigene Sprachen durch kolonialen Ambitionen an den Rand des Sprachtodes gebracht wurden, lässt sich nicht immer sagen. In der neueren Sprachwissenschaft ist aber das Bestreben zur Dokumentation (Lautsystem, Grammatik etc.) gefährdeter Sprachen eins der obersten Ziele. Am einfachsten lässt sich z.B. das Lautsystem mit dem Internationalen Phonetischen Alphabet schreiben, weil es unabhängig von orthografischen Konventionen funktioniert. Seit die Technik auch Audio- und Filmaufnahmen ermöglicht, sind weitere Dokumentationsmöglichkeiten dazugekommen.
Gerade bei kleinen Sprachen kann es hilfreich sein sie zu verschriftlichten, um die Sprache zu erhalten. Es lässt sich allgemein sagen, dass verschriftlichte Sprachen besser in ein Bildungssystem zu integrieren sind, z.B. für die Lehrkräfteausbildung und den Erhalt der kulturellen Vielfalt. Auch die Wissenschaft bekommt einen leichteren Zugang und die Akzeptanz für die Sprache steigt.
Kennst du Sprachen ohne Schrift? Schreib sie in die Kommentare!
Quellen
Haarmann, Harald Haarmann. Geschichte der Schrift. Beck, München 2002
Hussman, Heinrich. Das kleine Buch der Schrift : vom Ursprung bis zur Gegenwart. Bechtermünz, Augsburg 1997
