Lesen ist uns Menschen nicht angeboren, es ist eine Kulturtechnik. Sie geht einher mit der Technik des Schreibens, denn Lesen ist das Umformen von Schrift in Sprache. Die Frage nach dem ‚Was war zuerst?‘ Ist dennoch nicht pauschal zu beantworten, denn auch Zeichnungen oder Bilder etc. können eine Art des Lesens erfordern. Doch für die meisten Menschen denken beim Begriff ‚Lesen‘ an Schrift und geschriebene Texte.
Die Fähigkeit zu lesen ist aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Neben Büchern und Zeitschriften begegnet uns überall Text, auf Straßenschildern, Verpackungen, Busanzeigen uvm. Ohne die Fähigkeit zu lesen, würde man sich bei uns kaum zurechtfinden. Können wir uns ein Leben ohne Lesen vorstellen? Und damit meine ich jetzt nicht die vielen Menschen, die sich am liebsten mit einem Buch ins Bett oder auf die Couch verkrümeln, sondern unser Alltagsleben.
Seit wann liest der Mensch? Einfachste Antwort: seit es Schrift gibt. Doch so einfach ist es auch wieder nicht. Schreiben und Lesen bedingen sich zwar, aber sind zwei getrennte Techniken. Ein Mensch kann lesen, ohne zu schreiben und umgekehrt. Und bis in die Neuzeit war es eher die Ausnahme, dass Menschen lesen und schreiben konnten.
Lesen erfordert ein hohes Maß an Abstraktionsvermögen. Schriften bilden Sprache auf eine abstrakte Art und Weise ab, deren ‚Entschlüsselung‘ nicht minder komplex ist. Einem Kind erscheinen Buchstaben oder Schriftzeichen wie Magie, nicht anders ist die Faszination kleiner Kinder am Lesen lernen zu erklären. Die Erwachsenen lesen ihnen vor, die komischen Zeichen scheinen Sprache zu sein, das wollen sie erforschen. Viele Kinder schaffen es sich selbst lesen beizubringen, ihre Neugier, ihr Gedächtnis und ein gutes Abstraktionsvermögen helfen ihnen dabei.
Lesen lernen ist eine der ersten Fähigkeiten der elementaren Schulbildung, die Methoden unterscheiden sich jedoch. Es geht nicht nur darum einzelne Buchstaben zu identifizieren und aus ihnen Wörter zu bilden, sondern auch Phrasen und Sätze zu verstehen. Dabei erkennen wir Wörter im Allgemeinen als Ganzes. Doch diese Fähigkeit entwickelt sich erst nach und nach. Zu Beginn lernen Kinder die gelernten Buchstaben lautlich aneinanderzureihen und zu verbinden. Häufige Wörter wie ‚ist‘, ‚und‘ oder ‚das‘ werden mit einiger Übung kaum noch als einzelne Buchstaben wahrgenommen. Die Lesegeschwindigkeit nimmt durch Üben und der richtigen Technik rasch zu, so dass Kinder nach einiger Zeit ganze Texte lesen und verstehen können. Tritt ein unbekanntes oder seltenes Wort im Text auf, greifen fast alle Leser*innen auf das Buchstabieren zurück, um sich den Sinn des Wortes zu erschließen. Je vertrauter man mit dem Thema des Textes ist, desto schneller liest man.
Es stellt sich noch die Frage nach der Motivation des Lesens. Die Menschen lesen aus unterschiedlichsten Gründen, meist aus Freude und Wissensdurst. Für die Kinder und Erwachsenen, die gerade lesen lernen, ist Lesen eine enorme Anstrengung. Sie müssen die Buchstaben in Wörter und Sätze fassen und gleichzeitig ihren Sinn begreifen.
Ich erinnere mich gut daran, dass ich mich als Kind schwer getan habe zu lesen. Meine Mutter hat viel mit mir üben müssen, aber irgendwann hat es Klick gemacht. Die Nachmittage meiner Grundschulzeit habe ich häufig in der Bibliothek verbracht. Noch heute streife ich am liebsten durch Bibliotheken und Antiquariate oder über Flohmärkte, um ein paar Schätzchen zu finden. Fremde Schriften, die ich nicht verstehe, wecken in mir den Wunsch sie lesen zu lernen, obwohl das natürlich eher Wunschdenken als Realität ist.
Ich versuche mir auch oft vorzustellen, wie es wäre in einer Kultur ohne Schrift zu leben. Aus heutiger Sicht für mich undenkbar, denn sobald man sein Lesen automatisiert hat, kann man es nicht mehr verlernen. Aber Kulturen ohne Schrift sind deshalb nicht weniger kultiviert, nur auf eine andere Art, sie sind über Mündlichkeit geprägt. Geschichten, Legenden oder medizinisches Wissen werden von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Das erfordert viel Gedächtniskapazität, die wir durch unsere Möglichkeit Wissen zu konservieren nicht mehr nutzen.
Die Speicherung von Wissen ist durch die Verschriftlichung gesichert, wir sind es gewohnt schnell alles nachlesen zu können, in Büchern, im Internet usw. Doch das Beste ist das Lesen aus purer Freude, ohne Recherche im Hinterkopf. Einfach das Lieblingsbuch an der Lieblingsstelle aufschlagen und eintauchen in eine andere Wirklichkeit.
Quellen
Birkenbach, Matthias. Von den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens. Max Niemeyer Verlag. Tübingen 2017
Rühr, Sandra. Sinn und Unsinn des Lesens: Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart. V&R Unipress. Göttingen 2013
Wolf, Maryanne. Das lesende Gehirn – Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Spektrum. Heidelberg 2009