Lingua ignota

Geheimsprachen und -schriften gibt es schon seit Langem, ohne dass sich eine dauerhaft gehalten hatte. Menschen haben schon immer versucht Informationen so zu übermitteln, dass sie nur von Eingeweihten verstanden wurden. Doch gerade die erste und dokumentierte Geheimsprache bzw. Plansprache ist scheinbar nicht unbedingt zu diesem Zweck entwickelt worden. Sie stammt von Hildegard von Bingen: die Lingua ignota, dt. unbekannte Sprache.

Hildegard von Bingen war eine Äbtissin, die im 12. Jahrhundert lebte und in einem Kloster aufgewachsen ist. Das ermöglichte ihr eine für Frauen damals unüblich gute Ausbildung. Sie verfasste zahlreiche Arbeiten über Botanik, Medizin usw. und schuf eine Sprache mit dazugehörendem Alphabet.

Der Grund für Hildegards Motivation eine Sprache zu schaffen, wird in ihrer Religiosität vermutet. Sie beschreibt immer wieder Visionen, deren Deutung sie mittels einer neuen Schrift und Sprache in Worte zu fassen versucht. Man könnte die Lingua ignota als eine Art heilige Schrift verstehen, von Gott erschaffen, aber sicher ist diese Interpretation nicht.

Die Lingua ignota umfasst 23 Buchstaben, entsprechend dem lateinischen Alphabet. Das Aussehen der Buchstaben, sie nennt sie Litterae ignotae, scheint frei erfunden zu sein.

Insgesamt umfasst die Sprache nur 1011 Begriffe, die meisten davon sind Substantive. Dieser begrenzte Wortschatz beinhaltet vor allem Bezeichnungen für Menschen, Berufe, Tiere und Pflanzen. Auch die Menge an geistlichen Bezeichnungen wie Gott oder Teufel legen nahe, dass Hildegard weniger ein weltliches als ein geistiges Interesse an ihrer Sprache und Schrift hatte. Sie beschrieb keine komplette Grammatik, einige Endungen z.B. für Pluralformen sind zu erkennen.

Der Wortschatz ist teilweise ähnlich dem Deutschen, Hebräischen und Lateinischen, was Hildegard im Kloster gelernt hat. Manche Wörter weisen keine Parallelen zu bekannten Sprachen auf, sind also eine reine Erfindung.

Es lässt sich annehmen, dass die Sprache nicht für den täglichen Gebrauch bestimmt war. Die Gründe hat Hildegard niemals genannt. Sie verfasste eine Art Glossar mit dem Titel Ignota lingua per simplicem hominem Hildegardem prolata (dt. Eine unbekannte Sprache, von dem einfältigen Menschen Hildegard vorgelegt), in dem sie Übersetzungen ihrer Sprache vermerkt, jedoch erklärt sie weder die Entstehung noch den Zweck der Sprache.

Interessant ist, dass Hildegards wissenschaftliche Texte nie in der Lingua ignota geschrieben wurden. Auch dieser Umstand spricht dafür, dass es die Schrift eher eine geistige Übung handelt. Auch in ihren zahlreichen Briefen verwendet Hildegard nur vereinzelt Wörter der Lingua ignota, warum ist unklar. Aus den Briefen geht auch hervor, dass ihre Briefpartner von der Existenz der Sprache wussten. Aber scheinbar hat niemand diese Sprache jemals aktiv verwendet. Man findet sie nur als einzelne Wörter, eingebettet in lateinische Texte.

Nach dem Tod Hildegard von Bingens ging das Wissen um die Lingua ignota und ihrer Entstehung verloren, bis sich unter anderem Wilhelm Grimm für diese Sprache und seine Geschichte interessierte. Man kann die Lingua ignota nicht isoliert betrachten, denn Hildegard von Bingen war sicherlich nicht so veranlagt eine Sprache ohne einen Sinn dahinter zu erschaffen. Aber das werden wir nie genau herausfinden.

Quellen

Ferrara, Silvia. Die große Erfindung. C.H.Beck, München 2021

Gärtner, Kurt & Embach, Michael. Lingua ignota und Litterae ignotae. In: Hildegardis Bingensis Opera minora II. Turnhout 2016

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